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Reise in die Tiefe

 

Lascaux und Altamira

Eine mehrtägige Spurensuche zwischen Tieren, Symbolen und dem Fremden


Prolog – Vor der Öffnung

Der Morgen ist frisch, als wir unser Lager am Rand des kleinen französischen Dorfes Montignac verlassen. Nebel hängt über den Wiesen, und irgendwo kräht ein Hahn. Man könnte meinen, die Welt sei ganz normal, alltäglich, in ihrem ruhigen Rhythmus. Doch wir wissen: Schon bald werden wir in eine andere Zeit hinabsteigen, eine Zeit, die uns von den Tieren, den Menschen und vielleicht auch von den Göttern der Vorzeit erzählt.

Unsere Reise wird uns nach Lascaux führen, später nach Altamira. Zwei Orte, die mehr sind als bloße Höhlen. Sie sind Tore in eine Vergangenheit, die zugleich vertraut und unendlich fremd wirkt.

Wir packen Lampen, Notizbücher, Karten, Proviant. Und wir wissen: Was wir sehen werden, könnte unser Bild von den Anfängen der Menschheit für immer verändern.


Tag 1 – Der Eingang zur Dunkelheit

Der Eingang zur Höhle von Lascaux wirkt unscheinbar. Ein kleines Loch im Boden, ein enger Schacht, kaum größer als ein Tierbau. Man muss sich bücken, auf den Knien rutschen, bis die Dunkelheit einen verschluckt.

Die Temperatur fällt sofort. Die Luft ist feucht, riecht nach Stein und Erde. Tropfen fallen irgendwo im Hintergrund. Unsere Lampen werfen lange Schatten, und plötzlich wird es still – so still, dass man den eigenen Herzschlag hört.

Und dann, nach wenigen Schritten, öffnet sich der Gang zu einem Saal. Wir richten unsere Lampen auf die Wände – und halten unwillkürlich den Atem an.

Vor uns erscheinen Pferde, groß und lebendig, die Mähne im Wind, die Beine im Sprung. Daneben gewaltige Bisons, rotbraun und schwarz, als würden sie gleich die Wand durchbrechen. Linien, die Bewegung andeuten, Farben, die auch nach Jahrtausenden noch leuchten.

Es ist, als hätten die Künstler von damals in die Zukunft gemalt – für uns, die wir hier und heute stehen.


Tag 2 – Im Herzen der Tiere

Wir verbringen die Nacht nahe der Höhle, und am nächsten Tag steigen wir tiefer hinab. Dieses Mal gehen wir langsamer, sehen genauer hin.

Überall Tiere. Manche wirken naturalistisch, andere stilisiert. Pferde, Rehe, Auerochsen. Jedes Detail sorgfältig gesetzt: Fellstrukturen, Augen, Muskeln.

Doch was auffällt: Nicht alle Tiere sind gleich wichtig. Pferde dominieren – obwohl Pferde in dieser Zeit kaum gejagt wurden. Warum also gerade sie?

Wir diskutieren. Vielleicht waren sie heilige Tiere. Vielleicht symbolisierten sie Macht oder Fruchtbarkeit. Vielleicht waren sie Botschafter in eine andere Welt.

Ein Gedanke lässt uns nicht los: Diese Bilder sind keine Dekoration. Sie sind Botschaften. Aber an wen?


Tag 3 – Die Schacht-Szene

Am dritten Tag wagen wir uns tiefer vor. Wir folgen einem schmalen Gang, der uns in die Tiefe führt. Es ist eng, die Luft stickig. Wir kriechen, schieben die Lampen vor uns her.

Und dann stehen wir vor einer Szene, die uns den Atem raubt.

Ein riesiger Bison, die Eingeweide herausgerissen von einem Speer. Davor eine menschliche Figur – starr, mit ausgestreckten Armen, der Kopf wie ein Vogel, der Körper wie im Fallen. Neben ihm ein Vogel auf einem Stab.

Wir starren lange. Es ist, als ob die Wand selbst zu uns spricht – aber in einer Sprache, die wir nicht verstehen.

Ist es ein Schamane, der in Trance seine Tiergestalt annimmt? Ist es ein Mensch, der im Tod verwandelt wird? Oder ist es etwas ganz anderes – die Darstellung eines Wesens, das nicht von hier stammt?

Wir können nur raten. Aber wir fühlen, dass diese Szene eine besondere Bedeutung hatte.


Tag 4 – Die Sprache der Symbole

Heute richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Tiere, sondern auf die Zeichen zwischen ihnen. Punkte, Linien, Zickzack-Muster. Manche in Reihen, andere als kleine Gruppen.

Einer von uns zählt: 13 Punkte in einer Reihe. Zufall? Oder Hinweis auf den Mondzyklus?

Andere Zeichen wirken wie Pfeile, wie schematische Darstellungen. Manche erinnern fast an technische Skizzen – zu modern für ihre Zeit.

Wir versuchen, die Zeichen zu deuten, aber sie bleiben verschlossen. Und doch spüren wir: Hier steckt mehr als bloße Dekoration. Vielleicht war es eine Schrift, die wir nicht mehr lesen können. Vielleicht waren es Nachrichten – für ihre Götter. Oder für uns.


Tag 5 – Erinnerungen an andere Orte

Am fünften Tag ziehen wir weiter nach Spanien, nach Altamira. Schon der Weg dorthin ist wie eine Pilgerreise. Wälder, Berge, die Sonne über dem Kantabrischen Gebirge. Und dann, nach Stunden, eine weitere Höhle, verborgen im Fels.

Altamira. Die „Sixtinische Kapelle der Urgeschichte“.

Wir betreten sie, und die Decke über uns ist ein einziges Gemälde. Riesige Bisons, rot und schwarz, in Bewegung, im Sprung, im Kampf. Der Fels selbst ist Teil der Darstellung – seine Wölbungen formen die Muskeln, seine Risse die Konturen.

Es wirkt lebendig. Fast zu lebendig.

Wir legen uns auf den Boden, starren nach oben, und es ist, als würden die Tiere über uns hinwegstürmen.

Aber auch hier – zwischen den Tieren – tauchen Zeichen auf. Abstrakte Formen, rätselhaft, wieder nicht eindeutig erklärbar.


Tag 6 – Parallelen in der Welt

In der Nacht sitzen wir am Feuer und sprechen über das, was wir gesehen haben. Und jemand erinnert an Australien: die Wandjina, diese geisterhaften Figuren mit großen Augen. Andere denken an Ägypten: Götter mit Tierköpfen, Mischwesen, die Macht und Fremdheit zugleich ausdrücken.

Überall auf der Welt tauchen ähnliche Bilder auf. Überall das Motiv des Fremden, des Mischwesens.

War es Zufall? War es ein universelles Symbol menschlicher Spiritualität? Oder gab es tatsächlich Begegnungen, die die Menschen überall ähnlich darstellten – weil sie alle dasselbe erlebt hatten?


Tag 7 – Die Höhlen als Kathedralen

Am letzten Tag kehren wir noch einmal nach Lascaux zurück. Wir gehen tiefer hinein, als wir es bisher gewagt haben. Fackeln flackern, Schatten tanzen an den Wänden.

Wir spüren, dass diese Orte nicht einfach nur Werkstätten waren. Sie waren Heiligtümer. Kathedralen unter der Erde.

Die Malereien sind nicht zufällig dort, wo sie sind. Sie wurden bewusst angebracht – an Stellen, die verborgen, geheim, schwer zugänglich sind. Orte, die nur für Eingeweihte bestimmt waren.

Vielleicht sind die Höhlen das, was Tempel später wurden: Orte des Übergangs zwischen dieser Welt und einer anderen.


Epilog – Das Vermächtnis

Als wir die Höhlen verlassen, blendet uns das Tageslicht. Wir treten hinaus in eine Welt, die wieder normal wirkt – Bäume, Wiesen, Himmel. Doch in uns hat sich etwas verändert.

Wir haben nicht nur Tiere gesehen. Wir haben Spuren einer Gedankenwelt berührt, die uns gleichzeitig vertraut und unendlich fremd ist.

Vielleicht waren es Jagdzauber, vielleicht Schamanenvisionen. Vielleicht aber auch die ersten Begegnungen der Menschheit mit etwas, das nicht von hier war.

Die Wahrheit werden wir nie mit Sicherheit wissen. Aber die Höhlen lehren uns eines: Schon vor 20.000 Jahren suchte der Mensch nach Sinn, nach Ordnung, nach Antworten auf das Unerklärliche.

Und wenn wir heute vor den rätselhaften Bildern stehen, dann stehen wir nicht nur vor Kunstwerken. Wir stehen vor Fragen, die bis in unsere Gegenwart reichen. Fragen, die uns nicht loslassen.

Denn irgendwo, in der Tiefe der Höhlen, hallt noch immer ein leiser Ruf nach:
Wir sind nicht allein.